Mercedes inszeniert die neue S-Klasse als „Dritten Lebensraum“. Beim Interieur verfolgten die Ingenieure vor allem ein Ziel: Von der Welt da draußen sollen die Passagiere möglichst wenig spüren. Von Frank Brunner
Lärm, Leute, Luftverschmutzung. Das Leben auf unserem Globus war auch schon mal entspannter. Immer mehr Menschen, schwindende Ressourcen. Daran etwas ändern können nicht mal die Tüftler von Mercedes. Aber das die solvente Kundschaft zumindest zeitweise von dem Tohuwabohu verschont bleibt, dafür haben sich die Ingenieure der Stuttgarter Autofirma einiges einfallen lassen.
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„Nach Wohnung und Arbeitsplatz ist das Auto der dritte Lebensraum des Menschen“, philosophiert Pressesprecher Michael Allner. „Schwingungen, Vibrationen, Geruch – alles was stören könnte, haben wir wegkonstruiert“, sagt Götz Renner, der Experte für Kundenforschung, „Das Ziel ist ein aktivierender Komfort zur Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit und des Wohlbefindens“, tönt es aus der Marketingabteilung. Soweit die übliche PR-Prosa. Doch wie lebt es sich tatsächlich in der schönen neuen Wellness-Welt?
Donnerstagmorgen, Sindelfingen: Mercedes hat in eine kleine Halle am Rande des Industriegebietes geladen. Rund zwei Dutzend Journalisten sind gekommen und die müssen zunächst ihre Handys abgeben. Fotos und Filme sind verboten, das Außendesign soll noch geheim bleiben. Deshalb parken die drei schwarzen Vorführwagen in einer Art Dunkelkammer. Immerhin ist zu erkennen, dass eine Revolution bei der Karosserieform nicht zu erwarten ist. Gewohnt wuchtig wird die neue S-Klasse, das ist klar, trotz Tarnung.
Sichtlich stolz präsentieren die Ingenieure dagegen den Innenraum ihres Topmodells. Bei Technikfans und Ästheten dürfte das Ensemble aus Schaltern, Lampen, Leder, Holz und Chrom für helle Begeisterung sorgen. Wer will kann sich stundenlang durch Menüs, Untermenüs und Unter-Untermenüs der zwei 12,3-Zoll-Monitore klicken, die das Cockpit dominieren. Dort finden Passagiere dann Lösungen für Probleme von deren Existenz sie bislang nichts ahnten.
Oder kann sich jemand vorstellen, dass die Frau oder Freundin plötzlich mault: „Du Schatz, die Mittelkonsole ist heute wieder eiskalt und das ständige An- und Abschnallen nervt auch allmählich“. Im Mercedes-Universum sind solche Szenen anscheinend alltäglich. Deshalb haben die Entwickler elektrische Gurtschlossbringer eingebaut und daran gedacht, dass neben Lenkrad und Sitzen auch sämtliche Armauflagen beheizbar sind.
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Die S-Klasse ist Eskapismus auf Rädern. Es dürfte – abgesehen von illegalen Drogen – kaum eine Möglichkeit geben, schneller vor der rauen Realität zu fliehen. Einmal in den Sitzen versunken, offenbart sich auf rund zehn Quadratmetern eine Oase, die einen Rausch aus Farben, Klängen und Muskelentspannung auslöst.
So sorgen bei Nacht oder geschlossenen Jalousien 40 LED dafür, dass der Innenraum dezent in rot, gelb oder blau strahlt. Sinnfrei, aber sehr schick. Dank akustisch optimierter Außenspiegel genießt man die Lightshow in aller Ruhe und wer so viel Stille dann doch nicht erträgt, der kann gegen Aufpreis die Burmester-Musikanlage ordern und seine Zeit mit der Konfiguration der 24 Lautsprecher vertreiben, während die 14 Luftkissen des Energizing-Massagesitzes die müden Muskeln nach dem „Hot-Stone-Prinzip“ durchkneten.
Den Gipfel der Dekadenz erreicht Mercedes schließlich mit der optionalen Beduftungsanlage. Die besteht aus Flakon und dreistufigem „Duftgenerator“, die im Handschuhfach platziert sind.
Ausgedacht hat sich das System Sabine Engelhardt. „Wir wollen das Geruchsfeld des Innenraums individualisieren“, sagt die Wissenschaftlerin. Engelhart leitet die Abteilung „Beduftung & Zukunftsforschung Kultur & Auto“. Bei der S-Klassen-Präsentation trägt sie einen putzigen rosa Rock und spielt das enfant terrible unter lauter mausgrauen Krawattenträgern.
„Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden“, zitiert Engelhardt den Schriftsteller Mark Twain, um ihre Beduftungsanlage mit Bedeutung aufzufüllen. Das gelingt nur teilweise. So erinnert das Parfüm „Nightlife Mood“ an einen Freitagnachmittag in der überfüllten Männerumkleidekabine des McFit-Studios Berlin-Neukölln.
Nach dieser Brise Leben ist wahrscheinlich auch der letzte Insasse der S-Klasse wieder in der Wirklichkeit angekommen. Wenn man auf der Flucht vor dem vulgären Odeur den Luxusschlitten verlassen hat, dann bleibt wie nach jedem guten Trip vor allem eins: Katerstimmung.
Frank Brunner